In jedem Jahrzehnt erfuhr die Tour de France die eine oder andere organisatorische Veränderung, die sich oft hinter den Kulissen vollzog, aber bisweilen von großer Tragweite war… oder nur als Anekdote überliefert wurde. Die Zeitreise auf letour.fr wird 1970 im Windschatten von Jean-Marie Leblanc fortgesetzt – einem Fahrer, der seine zweite Tour de France bestreitet und im Feld kein Unbekannter ist. Der Franzose aus dem Departement Nord weiß bereits, dass ihm eine Karriere als Journalist winkt, aber er ahnt nicht, dass er Chef der Tour werden soll. Und dennoch sind alle Eigenschaften, die er an der Spitze dieses Wettbewerbs mobilisieren muss, bei diesem bescheidenen Teammitglied bereits angelegt.
Selbst kritische Zeitzeugen des Radsports der späten 60er Jahre würden sicher bestätigen, dass Jean-Marie Leblanc trotz bescheidener Erfolge (ohne dem Grand Prix d’Aix-en-Provence oder Circuit d’Armorique zu nahe treten zu wollen) ein guter Fahrer ist. Er ist außerdem das, was Journalisten als „guten Kunden“ bezeichnen: Er ist derjenige, den man im Startbereich anspricht, wenn man einen Originalton für einen guten Aufmacher braucht, oder der im Gespräch abschweift und eine Anekdote zum Besten gibt, die einen Artikel würzt. Ein Blick in die Archive der L’Equipe zur Tour 1970 ist aufschlussreich. Der Fahrer von Bic, der erst an seiner zweiten Tour de France teilnimmt (58. Platz 1968), erfüllt seine Rolle als Teamkollege von Jan Janssen und Luis Ocaña geflissentlich, wird aber in den Zeitungen deutlich häufiger zitiert, als es sein Gewicht im Rennen rechtfertigen würde. Man versteht diese Begeisterung aber, als der Schriftsteller Guy Lagorce ein „Kleines Porträt eines künftigen Berufskollegen“ zeichnet und Leblanc darin zu Wort kommen lässt: „Den Beruf des Journalisten aufzunehmen, wäre für mich auch die Gelegenheit, ziemlich vielen Leuten zu beweisen, dass die Fahrer nicht nur Typen mit dicken Oberschenkeln sind. (…) Ich gebe zu, dass ich in schwierigen Momenten mit Neid hineinblicke, wenn mich ein Pressefahrzeug überholt. Sie können sich nicht vorstellen, wie flauschig die Polster eines Autos wirken, wenn man sie vom Sattel eines Fahrrads aus betrachtet.“
Auch wenn man in diesem Sommer leicht das Potenzial des künftigen Journalisten sehen kann, ist es ebenso möglich, in Leblanc einen Menschen zu erkennen, der sich dem übergeordneten Interesse des Radsports verschrieben hat.
Der junge Familienvater, der sich bewusst ist, dass er mit seinem Niveau auf dem Rad nicht auf das Gehalt eines Champions hoffen kann, sieht als Liebling der Medien seine Zukunft eher in einer anderen Richtung. Dies gilt umso mehr, als er 1970 hier schon einiges vorzuweisen hat, denn er nutzt seine Winterpausen, um seine berufliche Zukunft vorzubereiten. Fünfzig Jahre später erinnert er sich noch sehr gut an seine ersten Schritte in der Sportpresse: „Ich war schüchtern, aber mein Freund Philippe Crépel überzeugte mich im Winter 1966-67, Emile Parmentier anzurufen, den Leiter der Sportredaktion der Voix du Nord. Er hat mich sehr offen aufgenommen und ich kann ihm gar nicht genug dafür danken. Er hat mir die Berichterstattung über die Querfeldeinrennen und die Rubrik Boxen übertragen. Ich habe die Arbeit geliebt und sogar einen Trainerschein erworben, um in dieser besonderen Welt glaubwürdig zu sein.“ Der junge Mann, der im Sommer Radsportprofi und im Winter Journalist ist, hat einen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften und damit ein Profil, das im Peloton heraussticht.
Bei der Tour 1970 lernt Jean-Marie Leblanc weiter und spielt das Fragespiel gern mit, „denn es interessierte mich brennend, sie von diesem Beruf reden zu hören, den ich selbst ausüben wollte“, betont der zukünftige Reporter, der 1971 tatsächlich sofort nach Ende seiner letzten Saison bei der Voix du Nord eingestellt wird. Auch wenn man in diesem Sommer leicht das Potenzial des künftigen Journalisten erkennen kann, der wenige Jahre später von L’Équipe-Chefredakteur Noël Couëdel gerufen wird, das Radsport-Ressort zu verantworten, kann man in Leblanc auch schon den Menschen erkennen, der sich dem übergeordneten Interesse des Radsports verschrieben hat.
Diese Seite veranlasst ihn, den Posten des Generalsekretärs im französischen Verband der Radsportprofis (Union Nationale des Cyclistes Professionnels, UNCP) zu übernehmen, wo er bereits seine Fähigkeit unter Beweis stellt, Verantwortung zu tragen. „Mit dem UNCP haben wir zum Beispiel dafür gekämpft, Zweijahresverträge für die Neu-Profis zu bekommen, was es damals nicht gab. Ich hatte Lust, meinen Berufsstand zu organisieren, was sich fortgesetzt hat, denn sobald ich Journalist wurde, habe ich mich in der Gewerkschaft der französischen Sportjournalisten (Union Syndicale des Journalistes Sportifs de France, USJSF) engagiert.“ Als er die Leitung der Tour de France 1988 übernimmt, erreicht er damit noch ein ganz anderes Niveau der Verantwortung – gerade einmal zwanzig Jahre nach seiner ersten Teilnahme als Fahrer.
Lesen Sie auch (oder noch einmal) die früheren Episoden dieser Reihe:
. 1960: Die „Große Schleife“ grüßt den großen Charles (6/10)
. 1950: Scheidung auf Italienisch (5/10)
. 1940: Keine Tour (4/10)
. 1930: Die Tour erfindet sich neu (3/10)
. 1920: Echte „Sportsmänner“ nach Desgrange (2/10)
. 1910: Alphonse Steinès, der große Bluff (1/10)