In jedem Jahrzehnt erfuhr die Tour de France die eine oder andere organisatorische Veränderung, die sich oft hinter den Kulissen vollzog, aber bisweilen von großer Tragweite war… oder nur als Anekdote überliefert wurde. Die Zeitreise von letour.fr geht 1920 mit der Lektüre der Entscheidungen und bildreichen Schilderungen von Henri Desgrange weiter – Tour-Chef und Chefredakteur der Sportzeitung L’Auto. Der frühere Stundenweltrekordhalter, der zum einflussreichen Zeitungsmann aufstiegen ist, greift die Stimmung in Frankreich auf, das die Helden des Ersten Weltkriegs bewundert und beispielsweise mit den Luftfahrtpionieren mitfiebert, die bereit wird, für eine Glanztat ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Man kann Desgrange auch als Erfinder der „Tour des Leidens“ betrachten…
Wo setzt man die Schwierigkeiten an, wenn man ein anspruchsvolles Rennen erwartet und man möchte, dass sich die Teilnehmer durch Bravour und Ausdauer auszeichnen, man aber dennoch nicht die Grenzen der Unvernunft überschreiten möchte? Die Frage führt zwischen Veranstaltern, Startern, Fans und Journalisten seit Anbeginn des Sports zu hitzigen Debatten. Die Auffassung, die Henri Desgrange als Herausgeber der Sportzeitung L’Auto und Tour-Chef im Frankreich der 1920er Jahre vertritt, gibt augenscheinlich nichts auf Kaprizen und Klageliedern: Seine Aufgabe ist, eine sportliche Prüfung zu organisieren – im wahren Wortsinn. Man kann auch heute noch darüber promovieren, welche Auflage der Tour de France die härteste war. Das Fazit würde nicht zwangsläufig die Tour von 1920 nennen, obwohl sie alle Merkmale aufweist. Mit einer Gesamtdistanz von 5.503 km ist sie zwar nicht die längste Tour in der Geschichte, aber bei nur 15 Etappen steht sie mit einer mittleren Länge von 367 km pro Etappe nur der Auflage von 1919 nach. Wir erinnern daran, dass die Schäden des Ersten Weltkriegs das Antlitz des Lands noch entstellen und die meisten Straßen mit Schlaglöchern, kaputten Pflastersteinen, Rissen und Spurrillen übersäht sind… nicht gerade ideal für ein Radrennen. Umso mehr, wenn der Startschuss der Etappen im Schnitt um 2 Uhr morgens fällt.
Als wären die Randbedingungen nicht schon anspruchsvoll genug, führt Desgrange eine Formel ein, die den Einfluss der Fahrradhersteller beim Rennen und jegliche Absprachen unterbinden soll. Dieser Kampf, der beim Tour-Chef einer Besessenheit gleichkommt, äußert sich in einem strengen Reglement, bei dessen Anwendung es keine Nachsicht gibt: „Der Teilnehmer der Tour de France begibt sich in die Situation eines Straßenfahrers, der allein zum Training aufbricht, ohne dass er auf seiner Strecke Vorbereitungen für seine Versorgung getroffen hat. Daraus ergibt sich: 1. dass er seinen Kameraden oder Konkurrenten in keiner Weise helfen und von diesen nichts annehmen darf; 2. dass sich der Fahrer auf der Strecke selbst versorgen muss, ohne im Vorhinein etwas zu ordern oder ordern zu lassen, und dass er keinerlei Hilfe annehmen darf; dieses Verbot geht soweit, dass er selbst Wasser an Quellen oder Brunnen auf dem Weg schöpfen muss. Was das Rad betrifft, muss jeder Fahrer die Tour mit dem gleichen Fahrrad bestreiten, außer bei einem schweren Unfall. In diesem Fall kann er sein Gerät mit einem anderen Radfahrer unterwegs tauschen, aber nur unter der Bedingung, dass das geliehene Rad von einer anderen Marke als das eigene ist.“
Nach vier Etappen zählt das Feld nur noch 48 Fahrer von den 113 ursprünglichen Startern. Die Stimmung ist mies, umso mehr als die Franzosen nach Strich und Faden von den Belgiern dominiert werden.
Soviel zum Hintergrund. Als die Tour am 27. Juni von der Place de la Concorde startet, bestätigen sich die Befürchtungen, dass die Reifenpannen sich häufen werden. Nach vier Etappen sind von den ursprünglich 113 Startern nur noch 48 Fahrer im Rennen. Die Stimmung ist auf dem Tiefpunkt, umso mehr als die Franzosen nach Strich und Faden von den Belgiern dominiert werden. Henri Pélissier gewinnt zwar in Brest und in Les Sables-d’Olonne, aber das aufrührerische Temperament des Siegers der Rennen Paris-Roubaix und Bordeaux-Paris von 1919 missfällt Desgrange. Dieser lässt es sich nicht nehmen, am Tag nach dessen Aufgabe auf der längsten Etappe zwischen Les Sables und Bayonne (483 km) seine Gedanken in der L’Auto mitzuteilen. „Zunächst stellt sich die Frage, ob Pélissier nach dem Krieg schlechter ist als vor dem Krieg? Überhaupt nicht! (…) Er ist nicht schlechter, aber die anderen sind besser und die Schwierigkeiten sind höher. Das sind Gründe. Sie sind berechtigt, aber ein Grund ist vorherrschend und Pélissier drückt es sehr deutlich aus: „Ich habe Geld und befinde mich in einer Situation, mich solch schweren Aufgaben nicht aussetzen zu müssen.“ Wer könnte es ihm verdenken, so zu argumentieren? Man könnte ihn trotzdem fragen, warum er dann überhaupt antritt. Sein Verstand scheint nicht mehr der gleiche zu sein wie früher. Er freut sich des Lebens, seine Begeisterungsfähigkeit hat sich mit dem Alter abgekühlt und sein Herz schlägt nicht mehr so wild wie zu Beginn. (…) Die Suppe ist ihm zu dick, der Löffel bleibt darin stehen. Er hat geistig bereits Bauch angesetzt, hat Besitzallüren, während man für die Tour de France die Geisteshaltung einer ausgemergelten Katze mitbringen muss.“ Die Tour 1920 geht ohne Henri Pélissier weiter (der Desgrange trotzdem 1923 eine Revanche liefert!) und dünnt das Peloton weiter aus, das am Ende der ersten Pyrenäenetappe auf 31 Mann schmilzt. In seinem Angriff auf Pélissier beschreibt der Tour-Chef übrigens auch noch die Einstellung und Gesinnung eines verdienten Champions nach seinem Format: „Und dann diese Flatterhaftigkeit einer jungen Frau! In Morlaix will er nicht, in Brest will er, in Les Sables-d’Olonne will er immer noch, aber 100 km weiter will er nicht mehr. Vergleichen Sie dieses „Fähnchen im Wind“, wenn ich das so sagen darf, mit dem beständigen Willen eines Christophe.“ Wie so oft vom Pech verfolgt, muss auch Desgranges Liebling Eugène Christophe aufgeben, weil ihn unerträgliche Nierenschmerzen quälen. Aber in Paris setzt sich jemand vom gleichen Kaliber durch. Philippe Thys wird erster Dreifachsieger der Tour: Seine Serie hatte vor dem Krieg begonnen (1913, 1914). Er führt eine Gesamtwertung an, in der Belgier die ersten sieben Plätze belegen. Am Ende des Rennens hat er mehr als 228 Stunden im Sattel verbracht – fast dreimal so viel Stunden wie Egan Bernal im Juli 2019. Es wäre trotzdem spannend, ein Portrait des ersten kolumbianischen Tour-Siegers aus der Feder von „HD“ zu lesen!
Lesen Sie auch (oder noch einmal) die früheren Episoden dieser Reihe:
. 1910: Alphonse Steinès, der große Bluff (1/10) (1/10)