Ji Cheng kommt aus einer für chinesische Verhältnisse kleinen Stadt: Harbin in der Provinz Hei Long Jiang im äußersten Nordosten des Lands im Grenzgebiet zu Sibirien hat „nur“ 3,3 Millionen Einwohner. „Im Winter fällt das Thermometer regelmäßig auf -36°“, beschreibt er. Unser Rekord lag bei -55°, aber das habe ich nicht selbst erlebt.“ Als Sohn einer Hausfrau und eines Inneneinrichters entspringt Ji Cheng einer Familie, die sich der Ein-Kind-Politik widersetzt hat, die zum Zeitpunkt seiner Geburt in der Volksrepublik China rigoros umgesetzt wurde. Der Sohn, der eine ältere Schwester hat, brachte seinen Eltern bei seiner Geburt eine Strafe von 3.000 Yuan ein, umgerechnet 370 Euro.
Einige Jahre später entdeckte Ji Cheng über das Laufen den Sport für sich: „In der Schule habe ich alle geschlagen, daher durfte ich auf eine Sportschule gehen. Eines Tages im Jahr 2002 bin ich auf das Fahrrad umgestiegen. Ich habe auf einem Hometrainer trainiert, weil es draußen einfach zu kalt war. Einen Monat später nahm ich an meinem ersten Straßenrennen teil: zwölf Runden um Laoshan herum, wo bei den Spielen von Peking die BMW-, Mountainbike- und Bahnwettbewerbe stattgefunden haben. Das war das härteste Rennen meines Leben, ich hatte noch nicht einmal Radsportschuhe.“ Schuhe oder nicht: Cheng war 2005 im Team seiner Provinz für die Chinesischen Spiele in Nanjing.
„2006 kam mir zu Ohren, dass Shimano chinesische Fahrer für das Team in Europa sucht“, erinnert sich Ji. Sie haben mich befragt und wollten vor allem wissen, ob ich kochen kann und Englisch spreche. Ich habe ihnen geantwortet, dass ich für mein Leben gern koche und bereit wäre, Englisch zu lernen. Also bin ich 2007 nach Hengelo in den Niederlanden übergesiedelt. Und Sie können meine Teamkollegen fragen: Ich bin ein hervorragender Koch. Meine Spezialität sind in Cola gekochte Hähnchenflügel.“
Der Sportdirektor von Giant-Shimano Rudi Kemna kommt auf das Wesentliche zurück und erklärt: „Als wir ihn als Jungtalent rekrutiert haben, hatten wir einen langfristigen Plan, um ihn an das Niveau der ganz großen Radrennen heranzuführen. Das ist uns gelungen und Ji spielt seine Rolle bei der Vorbereitung der Sprints.“ Der übliche Auftrag des chinesischen Sprinters besteht darin, das Peloton mitzuziehen, um die Verfolgung aufzunehmen. Der aufopferungsvolle Wasserträger wird sogar gelegentlich mit dem Beinamen „Ausreißkiller“ versehen, seit er es sich bei der Vuelta 2012 auf den fünf Etappen, die sein Kapitän gewann, zur Gewohnheit machte, systematisch den Vorsprung der Ausreißer zunichte zu machen. „Bei Giant-Shimano können wir sehr gut Flachetappen kontrollieren“, erklärt er. „Selbst Fahrer anderer Teams kommen zu mir und sagen: ‚Hey, Cheng, machst du uns vorn mal ein bisschen Tempo?“.
Unter den Augen der Fernsehteams, die einen Dokumentarfilm über seine Teilnahme an der Vuelta, dem Giro d’Italia und Paris-Roubaix gedreht haben, verspürt Ji eine Art Mission: „Ich bin vielleicht nicht der talentierteste Radsportler meines Lands, aber es ist mir wichtig zu zeigen, dass Chinesen ebenfalls dieses Niveau erreiche können, wenn sie sich wie Profis verhalten. Ich nehme an all diesen Rennen teil, um andere Fahrer zu inspirieren. Was ich bisher gemacht habe, hat schon große Wirkung gezeigt, aber mit der Tour de France wird sie enorm.“